Nick
Farben ordne ich einem Gefühl oder einem Geschmack zu. Rot zum Beispiel ist Streicheln und wenn ich eine Gänsehaut bekomme. Ist es draußen heiß ist und ich tauche meine Hände in kaltes Wasser, dann bedeutet das Dunkelblau für mich. Ich stelle mir Pink vor, wie Sahne schmeckt. Manchmal empfinde ich Weiß, wenn der See zufriert und ich mit Mia auf dem Eis entlangrutsche, meist an ihrem Arm. Ab und zu reiße ich mich los und gleite allein, ein leichtes Vorankommen, schwerelos; auch wenn ich riskiere, auf die Nase zu fallen.
Grün verkörpert den Geruch von Moos, wenn wir im Sommer im Wald unter einem Baum liegen und uns lieben. Im Sommer riecht das Moos viel mineralischer als im Herbst, dann wird es aromatisch, es erinnert mich an Mias Schoß, wenn ich sie dort küsse. Ich stelle mir Mias Schoß auch grün vor, obwohl sie immer lacht, wenn ich ihr das sage und sie darauf besteht, ihr Schamhaar sei braun. Mia trägt gern Schamhaar, sie findet es schöner, als ganz nackt zu sein.
Eine gute Verpackung, meint sie.
Braun stelle ich mir anders vor: wenn die Wange über Samt streicht. Kakao trinken ist auch braun. Die Konsistenz und der Geschmack von zähflüssigem, würzigem Tannenhonig auf meiner Zunge fühlt sich dunkelbraun an, besonders wenn man ihn ganz langsam im Mund zergehen lässt. Wie Tannenhonig gemacht wird? Läuse saugen den Tannnensaft aus den Nadelspitzen und scheiden die überschüssige Süße wieder aus, die Bienen sammeln diesen Honigtau. Was für ein Euphemismus: Honigtau. Ich denke immer, es ist eine Art zuckriger Pipi. Die Bienen wandeln ihn in den würzigen Honig um. Der ist auf jeden Fall dunkelbraun.
Ein warmes Schaumbad empfinde ich als gelb. Das Gewicht des Schaumes auf der offenen Hand ist hellblau. Mia meint, Schaum wiege nichts, aber das stimmt nicht. Dabei fühlt Mia sehr viel für einen Menschen, der sehen und hören kann, aber ich bin noch viel besser darin als sie. Taubblinde sind fast alle viel besser darin als die Hörenden und Sehenden. Ich habe mich aber schon oft gefragt, warum die sogenannten Normalen trotz ihrer vollständigen Sinneswahrnehmungen so vieles nicht bemerken. Vielleicht haben sie einfach zu viel zu verarbeiten?
Jetzt zum Beispiel. Ich sitze mit Mia, meiner Assistentin plus, also zugleich Sexpartnerin ohne Verpflichtung, im Zug. Eine ältere Frau teilt sich mit uns das Abteil. Bestimmt fünfzig oder sechzig, sagt Mia, obwohl mir Alter ziemlich egal ist. Aber eines ist mir schnell klar: Sie hat Angst vor mir, wahrscheinlich weil ich behindert bin. Sie riecht nach Panik, besonders als sie mit mir allein ist. Mia muss nur kurz aufs Klo, da stößt sie schon eine Wolke Angstschweiß aus, wahrscheinlich Unsicherheit und Scham. Angstgeruch ist nicht immer gleich: Manchmal rieche ich Entsetzen, manchmal Angst zu versagen oder auch die Angst, die beim Lügen entsteht. Jeder Geruch ist aber letztendlich einzigartig, weil ja jeder Mensch auch aus einer einzigartigen Zusammensetzung besteht.
Ich taste nach ihrer Hand. Sie lässt es geschehen…
(Auszug aus: Katrin Sommer, 2020, Das Gewicht von Badeschaum)