Ich trage die Ringe der Zeit und des Lichts. Mein Schatten ergibt sich der Sonne und formt ein dunkles Muster auf den weichen Waldboden. Mit meinen winddurchfluteten Armen lehne ich mich an die Wolken und berühre Nacht für Nacht das Firmament, während es sich über mir behaglich ausdehnt.
In mir verfängt sich immer noch die Leichtigkeit der Jugend, aber das Alter trägt mich. In meiner Kindheit war ich leicht zu übersehen, flüchtig wuchs mein dünnes Geäst, während meine filigranen Wurzelfasern den Grund betasteten. Inzwischen rage ich breit und mächtig empor, immun gegen kleine Widrigkeiten wie lästigen Insektenbefall, schreiende, silbrig glänzende Käfer und schnabelwetzendes Buntgefieder. Ich ankere mit dem mächtigen Wurzelwerk in der Tiefe, die Tyrannen Dürre und Kälte beeindrucken mich längst nicht mehr.
Heute, mit meiner krustigen, schuppigen Haut, meinen Furchen und meiner alten Schönheit kann ich Angriffen gegenüber gelassen bleiben.
Beharrlich verbinde ich mich mit den Wesen um mich herum. Wenn Menschen mir eine Chance geben, auch mit ihnen. Um meine leise Botschaft zu verstehen, erfordert es etwas Hingabe.
Wie lange ich in der Welt bleiben werde? Ob mich ein hungriges Feuer frisst oder ein gewaltiger Sturm fällt? Vielleicht diene ich irgendwann als Balken eines Hauses. Oder irgendein Übergang in einen anderen Zustand. Sterben werde ich nie, das ist nur ein Wechsel der Materie.
Lehne dich ruhig an mich, ich bin für dich da.
Möchtest du meiner Melodie lauschen? Zufrieden rascheln die Blätter in festlichem D- Dur, mein Holz knarrt im tiefen B-Moll. Die Rinde sendet lange, warme Basstöne, die nicht laut, aber spürbar sind. In sanften Rhythmen schlagen die Äste aneinander, der Wind spielt seinen eigentümlichen Klang darin. Jeder hört mein Lied anders.
Am Morgen beginne ich mit einer großen Fröhlichkeit den Tag, der Abend fällt in weicher Trauer über mich, die Nacht bereitet mir größtes Wohlbehagen: In meinen Träumen versammeln sich die Geschöpfe der Welt, sie wandeln sich und verlassen mich wieder. Falken werden zu Kaninchen und Gräser zu Blumen, Steine lösen sich zu Hirngespinsten auf.
Suche ruhig meine Nähe und atme die Wärme, die aus mir strömt. An meine zerklüftete Borke kannst du dich behaglich lehnen.
Ich warte auf dich, wenn du mit dem Alltag beschäftigt bist. Eine meiner Stärken ist meine unendliche Geduld.
Ich atme in Gottes Zeitmaß.
Ihr Menschen habt mir hübsche Namen gegeben: Linde, Eiche, Akazie, Ahorn und Buche. Namen voller Poesie. Aber mein ursprünglicher Name ist Leben.
Gern lade ich die verführerische Luft zum Tanzen ein, und bitte sie, noch ein wenig zu verweilen in meinen langen Zweigen, ich trage sie, wiege sie und sie lässt es sich gefallen. Wie sehr ich sie liebe.
Es gibt Zeiten, da muss ich schlafen, aber es sieht nur so aus. Ich sammle lediglich meine Kräfte in tiefster Konzentration für den nächsten Frühling. Aus dem Alten forme ich das Junge. In den ersten Tagen im Frühjahr kannst du dein Ohr an meine geborstene Haut legen und meinem Lebensfluss lauschen, der unter dem Schorf in meinen Adern pulsiert. Die Kraft fließt ungebremst aus der Erdmitte bis in die feinste Astspitze. Zitternd berühre ich mit meinem ersten Grün die Sonne. Sie und ich, wir kennen uns seit Anbeginn der Welt; ich habe ein gutes Gedächtnis.
…
(Auszug aus: Katrin Sommer, 2020, Das Gewicht von Badeschaum)